Der Philosoph und Dromologe Paul Virilio analysierte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die komplexe Dynamik der Gleichzeitigkeit zwischen medialer Übertragung, Geschwindigkeit und Hegemonie. Im Golfkrieg von 1990 entwickelte er dann seine Überlegungen im Zusammenhang mit den Bildern der Pressekonferenzen des US-Headquarter im saudi-arabischen Dhahran, bei der man die computergesteuerten Lenkwaffen in Echtzeit und den Flug des Geschosses in der Live-Übertragung mit dem Kameraauge im Sprengkopf verfolgen konnte. Gleich einem Projektil sollten die Bilder zeigen, wie man mit „chirurgischer Präzision“ Tote in der Zivilbevölkerung zu vermeiden suchte.
Diese Bilder waren jedoch mehr als nur eine technische Innovation.[1] Das überraschende Moment war seinerzeit, dass mit solchen Live-Bildern die Öffentlichkeit auf medialer Ebene scheinbar so dicht wie noch nie an ein Kriegsgeschehen herangeführt – und gleichzeitig vollkommen getäuscht wurde. Die TV-Kommunikation war nur ein Teil der Kriegsführung. Mit der Liveübertragung verschleierte man entscheidende Waffen und Attacken, wie z.B. des sogenannten Tarnkappen-Bombers F 117. Von diesem Flugzeug gab es keine öffentlichen TV-Bilder, vielmehr konnte sich das Flugzeug bei seinen Angriffen sogar der Radarerfassung entziehen und so entscheidende Attacken ausführen. Anders gesagt: die mediale TV-Präsenz in einem noch nie gekannten Maße fungierte vor allem als taktische Täuschung, nicht als Information. Diese Entwicklung war eine militärtechnologische Revolution – und gleichzeitig auch eine Initialzündung für einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch.
Alle Lebensbereiche wurden seitdem von der Digitalisierung in einem rasanten Tempo durchdrungen und ästhetisiert. Ironischerweise war dieser Prozess für die meisten Menschen vor allem im Unterhaltungssektor erfahrbar, d.h. im Game-Bereich und bei Video, Fotografie und Kommunikation.
Der Golfkrieg von 1990 ist heute – 34 Jahre später – in der breiten Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Dieses Prinzip der medialen Täuschung aber, dass man ein Geschehen zwar live beobachten kann, aber gleichzeitig weder etwas Entscheidendes erkennen noch überhaupt eine Vorstellung von einem Überblick bekommen kann, scheint heute in allen Lebensbereichen allgegenwärtig zu sein. Diese neue Unübersichtlichkeit korrespondiert mit der Erosion der kollektiven Erfahrungen. Die Sinnlichkeit der Gewohnheiten oder die Erschütterungen durch Erlebtes verflüchtigen sich zusehends in der Allgegenwart der digitalen Algorithmen. Diese bedienen jede Frage, liefern alle erdenklichen Informationen und begünstigen gleichzeitig den Verlust des kulturellen Gedächtnisses. Knapp gesagt: Wer alles zu jeder Zeit und an allen Orten erfragen kann, muss sich an nichts mehr erinnern. Der Verlust überführt die Beschleunigung zum Stillstand. Dieser Sachverhalt hat politische Konsequenzen, denn der Stillstand ist alles andere als stabil und wird vor allem als Verlust von Sicherheiten wahrgenommen. Er korrespondiert daher mit der Sehnsucht nach simplen Ordnungsvorstellungen in einer komplexen und beschleunigten, weil globalen Wirklichkeit. Tradierte Mythen und historisches Wissen verlieren sich zwischen Spielen und Filmen in der beschleunigten Transformation der popkulturellen Unterhaltungsindustrie. Und all das in einer Geschwindigkeit, von der auch Paul Virilio seinerzeit noch kaum eine Ahnung hatte. Es ist nun tatsächlich der „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (A.Kluge). Dass heute Soldaten mit der Helmkamera die Gefechtssituationen so darstellen, wie sie in Computerspielen zuvor von Millionen junger Menschen eingeübt wurden, ist dabei ebenso erschreckend wie die Tatsache, dass diese Menschen diese Entwicklung wie eine „Befreiung aus der Mündigkeit“ (I. Blühdorn) feiern. Statt Dystopien aber, ist es an der Zeit, neue Utopien zu beschreiben, will man nicht in diesem totalitären Prozess der Akzeleration jede Idee von Emanzipation aufgeben. Nichts ist so total, dass nicht irgendwo auch ein Riss in der Mauer ist, durch den man das andere Leben erblicken kann.
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[1] Schon 1943 wurde mit der HS 293 D von der deutschen Luftwaffe die erste kameragestützte Lenkwaffe eingesetzt. Sie diente aber nur zur visuellen Zielerfassung, nicht zur kommunikativen Täuschung des Gegners.