„Ich halte dieses »Kino« für unsterblich und für älter als die Filmkunst. Es beruht darauf, daß wir etwas, das uns »innerlich bewegt«, einander öffentlich mitteilen. Darin sind Film und Musik Verwandte. Beide gehen nicht unter. Auch wenn die Kinoprojektoren einmal nicht mehr rattern, wird es, das glaube ich fest, etwas geben, »das wie Kino funktioniert«.“ (Alexander Kluge „Geschichten vom Kino“)
Die Kinos sind mit der Umstellung durch die digitalen Vorführtechnik mit einer Entwicklung konfrontiert, die das Kino selbst grundlegend zu verändern scheint. Diese Umstellung verändert nicht nur die Vorführpraxis, die neue Technik selbst verändert auch das Medium Kino. Kino ist sicher mehr als nur das Bild auf der Leinwand mittels ratternder Projektoren und der dunkle, abgeschlossene Raum.
Wenn in der Zukunft etwas fortgeschrieben wird, »das wie Kino funktioniert«, dann ist es etwas anderes als Kino. Es ist eben dem herkömmlichen Kino so ähnlich wie früher die Laterna Magica oder das Kaiserpanorama, die Vorläufer des Kinos.
Es geht nicht darum, auf das Alte in sentimentaler Form zu insistieren. Der konventionelle Kinobetrieb hat in dem System keine Alternative. Wenn alle aktuellen Filme nur noch digital produziert werden, wenn der Verleih nur noch digitale Versionen anbietet, dann kann ein Kinobetrieb nicht 35mm-Kopien spielen, es sei denn, das Kino würde sich nur auf filmhistorische Werke beschränken. Kino als Museum widerspricht aber diesem Medium. Es ist eine Kunstform der Unterhaltung, und die gelingt nur, wenn sie aktuell ist.
Vielleicht ist hier aber ein Missverständnis oder eine alternative Perspektive möglich.
Man kann Kino auf diese Funktion der Zerstreuung reduzieren, aber eigentlich ist die Faszination des Kinos in etwas anderem begründet. In seinen Anfängen war das Kino eher beobachtend als unterhaltend. Man filmte alltägliche Geschehen oder Sensationen. Es dauerte, bis man mit der neuen Technik auch ein Publikum fand, das bereit war, für die öffentliche Unterhaltung sich Zeit zu nehmen und diese auch noch zu bezahlen.
1908 hatte Henry Ford das Automodell T entwickelt, just zu einer Zeit, als die Nickelodeons von den regulären Kinosälen verdrängt wurden. Sowohl das Automobil als auch der Kinofilm waren authentische Ausdrucksformen einer neuen Gesellschaftsform, der Konsumgesellschaft. Es waren Phänomene der Massengesellschaft und deren Demokratisierung: eine (pferdelose) Kutsche und ein Besuch im (Lichtspiel-) Theater für Jedermann. Dieses Prinzip der Demokratisierung war auch beim digitalen Filmen ein entscheidendes und vielversprechendes Moment. Dass jeder zu jeder Gelegenheit filmen und die Aufnahmen in einem eigenen Channel publizieren kann, wurde erst mit der Digitalkamera und dem Internet Wirklichkeit. Wie in visionären Texten der 30er Jahre beschrieben, schien sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Bevölkerung ein Medium angeeignet zu haben, das im Konsum schon immer ihr zu gehören mochte. Nun konnte man mit eigenen Bildern in unzähligen Ausdrucksformen die eigene Wirklichkeit beschreiben. Die einst Sprachlosen waren offensichtlich zu Autoren geworden.
Umgekehrt aber scheint gerade die digitale Technik die Sprachlosen einmal mehr verstummen zu lassen. Die Illusion, dass bedienungsfreundliche Geräte jeden zum Erzähler machen, scheint faktisch aber zur Enteignung des Erzählkunst geführt zu haben. Die zahllosen Filmemacher wollen Filme drehen, aber ohne etwas zu sagen zu wollen. Ihre Lust ist die der Anerkennung, nicht die des Erzählens. Videos auf Vimeo oder Youtube werden durch die Clicks oder „like it“-buttons qualifiziert, und der Blick durch die Kamera ist der auf den potentiellen Glamour auf einem Festival.
Was das Kino einst mit seinen Stars versprach, ist heute scheinbar jedem mit einem Video möglich. Vielleicht war aber schon in dem Starsystem der Studios in Hollywood eine stille Skepsis gegenüber dem, was der Film selbst als Medium eigentlich auszeichnet und überhaupt vermag: eine Kunst, die Wirklichkeit ablichtet und Lebensgeschichten erzählen will.
Vielleicht ist der Struktur nach das Kino gar kein Massenmedium, vielmehr hat es sich die Massengesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielleicht einfach nur unter den Nagel gerissen, weil es den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprach. Der Film selbst ist eine Form des Erzählens.
Ein Erzähler füllt allerdings keine Säle, und das intimste Gespräch mit einem Erzähler ist die Buchlektüre. Ein Erzähler will gehört und verstanden werden. Er spricht nicht zu Hunderten oder zu einem Millionenpublikum. Ein moderner Regisseur aber meint das stets können zu müssen.
Vielleicht realisiert sich das Kino gegenwärtig viel eher in einem kleinen Rahmen mit filmischen Essays, Collagen und Gesprächen als mit der Idee des großen Publikumserfolges. Das Kino kann den Freiraum für Gespräche schaffen, in denen Filme und Gedanken neue Ideen entfalten. Jenseits der Kinolandschaft behauptet sich ein cineastischer Garten, in dem auch der alternde Vorführer sich weiterhin um die Pflege der Bilder sorgt.
Doch ein Dilemma bleibt: wer bezahlt die Arbeiten an einem Film und den Ort für den „Kreis der Erzählungen“, diesem „cineastischen Decameron“? Schickt man sich an, die Kosten mit betriebswirtschaftlichen Maßstäben zu bewältigen und so einen solchen Freiraum zu behaupten, pflegt man weniger die Kunst und deren Inhalte, sondern beschwört lediglich die Notwendigkeit der Besucherzahlen. Die Logik der populärer Aufmerksamkeit und des Eventmarketings vertreibt den Zauber der Geselligkeit, des Erzählens, des Betrachtens und des Zuhörens.
Es muss eine plausible Alternative geben. Veränderungen wie die Umstellung von 35mm-Projektion auf Digitaltechnik können neue ermutigende Perspektiven eröffnen, auch wenn gegenüber diesen Perspektiven alle Beteiligten nur den Sachzwang der Kennzahlen als plausibel wahrnehmen.
von Norbert Ahlers (2013)